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Interview mit Jürgen Becker | 17.6.2025 | Bürgerhaus Rees

„Wir waren damals alle verliebt in Uschi Nerke“


Gleich zu Beginn die Gewissensfrage: Vinyl oder digital?

Jürgen Becker:
Beides! Knisternde LPs machen ebenso Freude wie die Spotify-Playlist. Der Vorteil der LP: Die großen Cover schenken Sammlern Freude, wie etwa die berühmte Rolling-Stones-LP „Sticky Fingers“ mit einem echten Reißverschluss. Sie hängt eingerahmt bei mir zu Hause, schließlich hieß der Grafiker Andy Warhol.

Funktioniert Ihr privater Plattenspieler noch?

Jürgen Becker:
Der tut et noch! Und das ist der zweite Vorteil: Man bleibt in Bewegung, man muss ja alle 20 Minuten aufstehen und die Platte umdrehen.

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Kabarettprogramm samt Gesellschaftsstudie auf Schallplatten basieren zu lassen?

Jürgen Becker:
Die Menschen sind zunehmend veränderungserschöpft. So suchte ich nach Ankern in Zeiten, die richtig gut waren und wo wir richtig gut waren und viel verändert und gestaltet haben. Wenn wir uns davon emotional berühren lassen, können wir auch in Zukunft noch viel bewegen. Pessimismus ist Zeitverschwendung.

Welche Schallplatte war die erste, die Sie gekauft haben?

Jürgen Becker:
Das war „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band”. Die haben wir im Musikunterricht durchgenommen. Außerdem fand ich das Cover toll.

Als Kölner Jung waren Sie sicherlich früher oft bei Saturn. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit diesem einst größten Plattenladen Deutschlands?

Jürgen Becker:
Ja, das war prägend. Eine LP war mit unserem schmalen Schülerbudget eine riesige Investition. Also mussten wir uns absprechen, dass wir nicht dieselben Platten kauften, sondern gemeinsam eine große Vielfalt hören konnten. Irgendwann habe ich ein gebrauchtes UHER-Tonbandgerät ergattert und konnte damit schon in etwa das herstellen, was man heute Playlist nennt.

Welche Modewellen des Musikfernsehens haben Sie begeistert miterlebt?

Jürgen Becker:
Richtig begeistert hat mich die Sendung „Beat-Club“ von Radio Bremen. Ich glaube, wir waren damals alle verliebt in Uschi Nerke, die die Sendung mit wechselnden Partnern moderierte. Danach kam das Radio mit der „Radiothek“ auf WDR 2. In der dort integrierten „Discothek“ fragte Mel Sandock: Hit oder Niete? Er sprach immer über die Titel drüber, so dass wir sie schlecht mitschneiden konnten. Anderseits hatte die Sendung dadurch unheimlich Drive. Und so habe ich mir gedacht: Sei doch einfach der Mel Sandock des Kabaretts! Jetzt mache ich das in meinem Programm „Deine Disco“ auch so. Das macht mir echt Spaß, und im Publikum muss ja niemand mitschneiden.

Wie musikalisch sind Sie eigentlich selbst, im Hinblick auf Stimme und Instrumente?

Jürgen Becker:
Komischerweise gar nicht. Ich liebe Musik über alles, weiß aber, dass andere das besser können, und lasse die Finger von der Gitarre, auf der ich mal ein paar Akkorde gelernt habe. Beim Singen mache ich Ausnahmen, wie bei dem Lied „Ich bin so froh, dass ich nicht evangelisch bin“, das ich mit Norbert Alich auf der Beerdigung von Hanns Dieter Hüsch ersonnen habe. Am Niederrhein bekommt man oft die besten Ideen.

Die meisten Kabarettisten singen auf der Bühne. Ist das (immer) eine gute Idee?

Jürgen Becker:
Jeder, wie er mag. Am genialsten finde ich Pigor & Eichhorn mit ihrem Lied: „Halt, Ihr könnt doch jetzt nicht alle in Rente gehen!“ Das begeistert mich.

Bei welcher Filmmusik haben Sie im Kinosaal Gänsehaut bekommen?

Jürgen Becker:
Mein erster Kinofilm, den ich ohne Eltern, nur mit Freunden anschaute, war James Bond in „To live and let die“ mit dem genialen Soundtrack von Paul McCartney. Ich war restlos begeistert. Zuletzt war ich in „A complete unknown“, der wunderbare Film über Bob Dylan. Und komischerweise muss ich im Kino immer weinen. Mein Körper spürt das: Du bist jetzt im Kino, sofort Tränenflüssigkeit bereitstellen!

In vielen Interviews werden Prominente gefragt, welches Lied bei ihrer eigenen Beerdigung gespielt werden soll. In diesem Interview passt es perfekt. Also?

Jürgen Becker:
Meine Beerdigung muss ja den Hinterbliebenen dienen, nicht mir. Aber wenn es in meine Urne schallt: „Sie wünschen, wir spielen“, würde ich hinausrufen: „Der Astronaut muss weiter“ von Udo Lindenberg.


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Jürgen Beckers Top-Five der besten Platten aller Zeiten

1. Karl Dall sang bei Insterburg: „Ich hab kein Abitur, ich hab Mittlere Reife, ich war nie Terzia, ich war nur in 8b“ Das ist eine tolle LP, die auch auf mich zutrifft. Und ich bin nach wie vor froh über den zweiten Bildungsweg.

2. James Last: „Beach Party Volume 2“ mit dem Beatles-Hit „Here comes the sun.” Durch die Chuzpe von James Last, mit der er Ikonen der Musikgeschichte in seinen Happy Sound übersetzte, habe ich die Popmusik verstanden. Pop ist weder Bildersturm noch Denkmalschutz. Pop heißt: zitieren und verwenden. Und wenn der Pop Vergangenes verwendet, ist das nicht Brauchtum und Traditionspflege, sondern Retro.

3. Can: „Ege Bamyasi“. Holger Czukay, Irmin Schmidt und Jaki Liebezeit haben 1972 auf dieser schwerverdaulichen LP mit elektronischer Musik einen veritablen Hit gelandet, der es zur besten Sendezeit ins Fernsehen schaffte. So diente es dem Straßenfeger von Francis Durbridge als Titelsong. In seinem Krimi „Das Messer“ lief der unverwechselbare Ohrwurm „Löffel“, englisch Spoon. Ein Meisterwerk, das heute noch Freude macht.

4. Greg Lake: „I Believe In Father Christmas”. Eines der bekanntesten Weihnachtlieder aus Großbritannien kam von Greg Lake und erschien als transparente, rote 10" Vinyl. Die konzertante Version von Emerson Lake & Parmer zitiert aus Sergej Prokofievs „Troika“ ganz famos „Lieutenant Kije“. Auch hier gilt: Pop heißt: benutzen und verwenden.

5. Crosby, Stills, Nash & Young: „4 Way Street”. Eine grandiose Live-LP, die man auch heute noch genussvoll, auf dem Sofa liegend, komplett durchhören kann. Wenn man nicht alle 20 Minuten aufstehen müsste, um die Platte umzudrehen.